Erstaunlich, das niemand Oettinger mit Trump vergleicht und seinen sofortigen Rücktritt von allen EU-Posten fordert. SPD-Sprecherin Barley fordert eine „Entschuldigung“und bittet ihn höflich, „sein Weltbild zu überprüfen“ – und dann kann er EU-Haushaltskommissar, alias Chef-Normalisierer werden. Selbst führende Schwulenpolitiker wie Volker Beck verharmlosen seinen Frontalangriff auf die Homoehe als „Wahnwitzelei“ und fordern nicht seinen sofortigen Rücktritt.
Seit wann gibt es Rabatt auf „Altherrenwitze“? Bei Trump war das anders. Oder wie wäre das Echo, wenn Putin das gesagt hätte?
Die vermutliche Erklärung: „deutsche Verantwortung“
Bei den medialen Wiedergaben der Rede fehlt (besonders auch bei Volker Beck) Oettingers Pointe: Er schloss seine „Wahnwitzelei“ mit dem überhaupt nicht witzig, auch nicht altherrlich, sondern tief ernst gemeinten Hinweis auf die „deutsche Verantwortung“. All das – von Schlitzaugen bis Homoehe – sei deshalb schlimm, weil es gegen die „deutsche Verantwortung“ gerichtet sei: „Die deutsche Tagesordnung genügt meiner Erwartung an deutsche Verantwortung in keiner Form.“ Das ist des Wahnwitzels Pudels Kern. Und die wird er ja nun an der Spitze der EU wahrnehmen können. Ab jetzt wird sein Busenfreund Schäuble seine „deutschen Verantwortungen“ direkt per Oettinger und nicht erst über drei Ecken in „europäische Verantwortungen“ umsetzen können.
Er wollte Griechenland aus dem Euro schmeißen und unter europäische Notstandsverwaltung stellen
Vergessen? Oettinger, der eine Art „Pionier“ für seinen „schwäbischen Landsmann“ Schäuble macht und dessen Ideen zuweilen testet, weil man ihm in Berlin einen „Altherren-Rabatt“ zugesteht, plädierte auf dem Höhepunkt der Kollision mit der ersten Regierung Tsipras und dem griechischen Volk im OXI-Referendum für sofortigen Grexit (wie sein Meister Schäuble) und ließ eine weitere Katze aus dem Sack: Griechenland sollte zum „europäischen“ Notstandsgebiet erklärt und seine Verwaltung von der EU übernommen werden (siehe z.B. SPON vom 15. Juni 2015). (Wer sollte wohl der Notstandsdiktator in Athen werden? Dreimal darf man raten.)
Also müssen „wir“ ihm aus deutschnationaler Solidarität Ablass geben (500 Jahre Luther!), weil er „unser Mann in Brüssel“ sein wird?
Besser ein deutscher „Wahnwitzel“ als Oberkommissar in Brüssel als eine nichtdeutsche Unbekannte? Sind „wir“ soweit?
ZUSATZ 1.11.: Q.E.D. = QUOD ERAT DEMONSTRANDUM = WAS ZU BEWEISEN WAR = (FREI: BEWEIS GELUNGEN)
(aus einem Artikel der FAZ 31.10. „Direkter Draht nach Brüssel“): „Über die Gründe für den Wechsel der in Brüssel hochangesehenen bulgarischen Haushaltskommissarin Kristalina Georgiewa zur Weltbank ließ sich am Wochenende nur spekulieren. Schließlich ist die Stelle als CEO in der Washingtoner Institution anders als der von ihr angestrebte Posten als Generalsekretär der UNO kein klarer Aufstieg. Schnell wurde das Gerücht gestreut, die Vizepräsidentin sei frustriert von der Arbeit in der Brüsseler Behörde. Sie störe nicht zuletzt der große und ihrer Ansicht nach zweifelhafte Einfluss, den der Kabinettschef von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, der Deutsche Martin Selmayr, auf das Tagesgeschäft in der Kommission habe.“ (Nachfolger Georgiewas wird nun Oettinger.) […] „Im Umkehrschluss ließe sich eine Aufwertung von Oettinger im Machtgefüge der Kommission nun als Formalisierung des gewachsenen Einflusses der Bundesregierung interpretieren. Fakt ist, dass nicht zuletzt die deutsche Regierung in der Aufarbeitung der Folgen des Brexit-Votums eine tragende Rolle spielt. Nachdem Juncker kurz vor dem Gipfeltreffen der 27 Rest-EU-Staaten in Pressburg (Bratislava) eine den deutschen Wünschen entsprechende Rede zur Lage der EU gehalten hatte, wurde in Brüssel kolportiert, die Rede sei in den Tagen zuvor zwischen Brüssel, Paris und Berlin hin und hergeschickt worden. Faktisch hätten die französische und die deutsche Regierung die Rede diktiert. Das ist zwar tatsächlich eher ein Märchen, illustriert die deutsch-französische Rolle in Brüssel in diesen Tagen aber dennoch gut. Mit Oettinger als Vizepräsident hat die Bundesregierung nun in der EU-Kommission einen direkteren Draht zu Juncker.“
Weshalb eben alle guten Deutschen Oettingers Hamburger Rede entweder (wie der Autor dieses Artikels, Hendrik Kafsack) bloß in einem Nebensatz erwähnen oder aber jedenfalls nicht mit einer Rücktrittsforderung verbinden. Denn „wir“ haben mit Oettinger (plus Selmayr plus Regling an der Spitze des ESM, dem Schäuble die Ermächtigung über alle EU-Haushalte geben will) nun einen „direkteren Draht“ zur Hegemonie in GERMROPA – es gibt weniger Reibungsverluste für „unsere“ Hegemonie. Q.E.D.
Was soll man sagen, JLs Analyse trifft – einmal mehr – genau ins Schwarze.